Die Rechenmaschine CURTA - Mechanik in vollendeter Form - Peter Kradolfer (2/12)

Die CURTA und ihr Erfinder Curt Herzstark ~ Peter Kradolfer

Im März 1938 wurde Osterreich von den Nationalsozialisten annektiert. In ihrem Jargon hiess das: «heim ins Reich geführt». Als Folge davon sah sich die deutsche Wehrnacht in der Industrie des annektierten Landes5 um, also auch in den Austria-Werken. Mit der Ausführung besonders schwieriger Probeaufträge auf dem Gebiet des Lehrenbaues für das Heereswaffenamt in Berlin konnte die Firma ihre Existenz bewahren, dies trotz der nicht rein arischen6 Abstammung des mittlerweile zum technischen Betriebsleiter aufgestiegenen Curt Herzstark. Mit anderen Worten: Die Firma Austria wurde nicht enteignet oder «arisiert», musste aber ihre Produktion den Wünschen der Nationalsozialisten anpassen.
Alles ging recht lange gut, genauer: bis ins Jahr 1943. Deutschland war bereits im 5. Kriegsjahr und die Misserfolge häuften sich: Die Kapitulation der deutsch-italienischen Heeresgruppe in Afrika im Mai, der Sturz Mussolinis im Juli, das Vorrücken sowjetischer Truppen an der Ostfront und die amerikanisch-britische Bomberoffensive auf Ziele im Norden und Westen Deutschlands sind einige der herausragenden Ereignisse in diesem Jahr. Curt Herzstark wurde verhaftet. Es wurden ihm «Unterstützung von Juden und staatszersetzenden Elementen» und «anstosserregende Kontakte zu arischen Frauen» zur Last gelegt. Das einzige, was man gegen ihn jedoch konkret vorbringen konnte, war lediglich, dass Mitarbeiter, die im übrigen in keiner Weise rassistisch eingestellt waren, beim Hören feindlicher - im Klartext: englischer - Sender ertappt wurden und er sich für sie einsetzte. Einer der Ertappten wurde hingerichtet. Zu einer Zeugenaussage in dieser Sache zur Gestapo geladen, kehrte Curt Herzstark nicht mehr nach Hause zurück. Er kam ohne jedes ordentliche Gerichtsverfahren zunächst in Wien in «Schutzhaft», wie man damals solche Willkür zynischer Weise nannte. Danach wurde er in eine Judenzelle gebracht und schliesslich nach Prag deportiert, in das berüchtigte Pankraz-Gefängnis. Hier hat ihn die SS übernommen. Über die Behandlung in Prag habe ich von Curt Herzstark Dinge vernommen, die mich tief erschütterten. Es lief mir kalt über den Rücken ob all der Grausamkeit und Menschenverachtung, zu der das intelligente Wesen Mensch fähig ist. Herzstark erklärte mir dazu wörtlich: «Es wird ja viel erzählt; ich erzähle aber nur das, was ich selbst erlebt habe!»
Herzstark fuhr fort: «Einige SS-Offiziere kamen in die Zelle, in der etwa 30 Gefangene eingesperrt waren. Alle mussten sich nackt ausziehen, zwei erhielten den Befehl, Hund zu spielen. Sie hatten nackt auf allen vieren zu kriechen und dann zu bellen». Man stelle sich die ungeheuerliche Situation dieser Entwürdigung des Menschen vor! Ein andermal erzählte er: «Und ich hatte ja Glück, ich kam nach Buchenwald7». lch erschrak, denn von Buchenwald hatte ich gehört und auch davon, dass dort Zehntausende den Tod fanden. Der Name lasst auf einen idyllischen Platz schliessen - doch dieser Schein trügt, von Idylle keine Spur. Im Herbst 1943 wurde Herzstark also ins KZ Buchenwald «zur besonderen Verwendung» gebracht. Die Berichte der Wehrmacht über die Präzisionsarbeiten der Firma Austria und insbesondere über die Kenntnisse Herzstarks haben dazu geführt, dass die Nazis Herzstark als «lntelligenzsklaven» behandelten. Zunächst im «kleinen Lager» unter den unwürdigsten Umständen an den Rand der Verzweiflung getrieben, durfte er Ende 1943 ins «grosse Lager» übersiedeln und wurde zur Arbeit in das dem KZ angegliederte Gustloff-Werk8 beordert. Unter dem Sammelnamen «Gustloff-Werke» wurden die durch die Nazis enteigneten Betriebe im nationalsozialistischen Deutschland weitergeführt. Es gab in Deutschland viele solche Betriebe, die alle für die Rüstung arbeiteten. Das Gustloff-Werk des Lagers Buchenwald arbeitete mit grösstenteils ausländischen Fachkräften, die in ganz Europa zusammengefangen worden waren. In der Regel waren dies keine Juden. Herzstark erhielt bald spezielle Überwachungs-Aufgaben, die er - wenn immer möglich - im Interesse seiner Mitgefangenen ausführte, wodurch er ein nicht geringes persönliches Risiko einging.

Neben der Eigenproduktion von Rüstungsgütern gab es auch Gelegenheit zur Revision von Kriegsbeute. Nach dem Rückzug der Deutschen aus Italien im Sommer 1944 wurden beispielsweise mehrere Lastwagen voll Olivetti Werkzeugmaschinen nach Buchenwald gebracht. Herzstark erhielt den Auftrag, diese betriebsbereit zu machen. Anschliessend wurde die Thüringer Industrie eingeladen, sich mit billigen Werkzeugmaschinen einzudecken. Herzstark hatte diese der Kundschaft zu präsentieren. In einem der Kunden traf er den bekannten «Waffen-Walther» wieder, der sich auch als Konstrukteur der «Walther Universal- Rechenmaschine»9 einen Namen machte.



Abb.2: Curt Herzstark (1902- 1988) im April 1988




Die Entstehung der Rechenmaschine CURTA

Auf die Idee zur Konstruktion einer Rechenmaschine im Taschenformat, aber für alle vier Rechnungsarten, kam Curt Herzstark durch Anregung aus Kundenkreisen im Verlauf seiner Verkaufsreisen. Zusätzlich galt es, ein eigenständiges Produkt zu finden, das der Firma AUSTRIA auf längere Sicht ermöglichte, unabhängig von Zulieferern lebensfähig bleiben zu können. Zwar gab es bereits viele mechanische und elektromechanische Rechenmaschinen.







5 Die österreichischen Bundesländer wurden aufgelöst und sieben Reichsgaue gebildet

6 Herzstarks Vater war liberaler Jude, seine Mutter «Voll-Arierin»; Curt Herzstark wurde evangelisch erzogen

7 Buchenwald war ein nationalsozialistisches Konzentrationslager aus dem Ettersberg bei Weimar; von 1937 - 45 wurden rund 240000 Menschen aus 32 Nationen dorthin verschleppt; von ihnen fanden schätzungsweise 56000 den Tod; heute ist Buchenwald eine Gedenkstätte

8 Wilhelm Gustloff war der Name des Landesleiters der NSDAP in der Schweiz, der Anfang 1936 in Davos ermordet wurde. Offenbar wurden die enteigneten Betriebe zu seinem Gedenken in «Gustloff-Werke» umbenannt

9 Die «Walther Universal-Rechenmaschine» ist eine Vierspeziesmaschine des Sprossenradtypen


© Peter Kradolfer 1993

 

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